Dienstag, 29. Dezember 2009

Irrlichter

Vor langer, langer Zeit irrte ein junger Mann in einer Vollmondnacht ziellos durch das Moor. Er lief von hier nach da, ging dorthin und wieder zurück und abermals woanders hin. Aber er ging nicht wie ein Verirrter. Manchmal blieb er stehen und betrachtete einen Gegenstand, der seinen Weg kreuzte. Ein andermal blickte er hinauf in den Himmel, als zeigte sich dort etwas. Zwischendurch pfiff er ein Lied, dessen Töne so schrecklich falsch aus seiner Zahnlücke drangen, dass die Tiere der Nacht lieber in ihrem Bau blieben. Als er gerade wieder die Äste eines Gebüschs auseinander schob, um zu sehen, was sich dahinter verbarg, schimpfte augenblicklich eine hohe, schrille Stimme in die Nacht: „Ei,ei, wer pfeift denn da so schaurig falsch! Hör auf zu fiepen, du machst uns ja alle verrückt!“

Erschrocken wandte sich der Schustergeselle um. Vor lauter Angst vergaß er sogar das Pfeifen. Doch solange er sich auch umsah, er konnte niemanden erkennen.

„Na also, geht doch“, rief die Stimme wieder, „was dir auch einfällt!“

Erst jetzt bemerkte der Schustergeselle das kleine Männchen, das aus dem Schutz einer Krüppelkiefer hervorgetreten war und sich vor ihm aufbaute. Es war so klein, dass es ihm kaum bis an die Knie reichte. Da musste der Schustergeselle über sich selbst lachen, wie hatte er sich auch nur vor einem solchen Wichtel fürchten können!

„Wie heißt du“, fragte das Männchen.

„Was geht dich das an?“, antwortete der Schustergeselle unwirsch. „Verrate zuerst du deinen Namen!“

„Hier im Moor nennt man mich Mooriin und ich sage dir, wir Moorbewohner sind so unfreundliche Leute wie dich nicht gewohnt.“

Mit diesen Worten hatte der Wichtel den Schustergesellen für einen kurzen Moment beschämt, obwohl dieser auch sonst kein besonders einfühlsamer Zeitgenosse war.

„Meine Eltern gaben mir den Namen Heinrich,“ antwortete er, ärgerte sich jedoch im selben Augenblick darüber, dass er plötzlich so freundlich war.

„Weshalb läufst du so ziellos des Nachts durch das Moor“, fragte Mooriin. „Hast du dich verlaufen?“

„Nein, verirrt habe ich mich nicht“, sagte Heinrich.

„Was willst du dann hier? Suchst du jemanden?“

„Nein, ich suche auch niemanden. Ich bin nur hier, weil ich mit meinen Freunden gewettet habe, dass ich mich nicht vor Irrlichtern fürchte. Und diese Wette ist nicht schwer zu gewinnen. Denn es gibt keine Irrlichter. Aber um das zu beweisen, muss ich eine Nacht im Moor zubringen. Meine Freunde erwarten mich bei Sonnenaufgang an der Straße, die vom Moor zum Dorf führt.“

Nun lag auf Heinrichs Gesicht erneut dieses höhnische Grinsen, das er immer zur Schau stellte, sobald er andere für Dummköpfe hielt.

„Du solltest du dich unter einen Baum setzen, um auf den Morgen zu warten“, sagte Mooriin, „im Finstern ist es gefährlich im Moor. Du könntest vom Weg abkommen und im Sumpf untergehen.“

„Dann setz du dich doch unter einen Baum, wenn dein Herz vor Angst stehen bleibt! Ich fürchte mich nicht. Siehst du nicht, wie gut der Vollmond die Nacht erhellt?“

„Das Moor hat sich schon viele Menschen geholt“, sagte der Wichtel. „Nicht wenige bei strahlendem Sonnenschein!“

„Wenn es hier so gefährlich sein soll, was treibt dich dann so spät noch durch die Dunkelheit?“, fragte der junge Mann.

„Ich suche Irrlichter.“

Da begann Heinrich lautstark und höhnisch zu lachen.

„Irrlichter sucht der Wichtel“, schrie er in die Nacht hinaus, „Irrlichter, ha-ha-ha-ha-ha, ..., wo doch jedes kleine Kind weiß, dass es keine Irrlichter gibt. Nein, so etwas!“

Nachdem er sein scheußliches Gelächter beendet hatte, war das Männchen fort. Als hätte es sich in Luft aufgelöst. Mit ihm war auch der Mond verschwunden. Dichte Wolken hatten sich über den Himmel geschoben und die Nacht wurde so dunkel, dass der junge Mann kaum noch etwas sehen konnte. Er taumelte durch das Moor und dachte bei jedem Schritt: „Was gäbe ich jetzt für einen Baum, an dessen Stamm ich mich anlehnen könnte, um auf den neuen Tag zu warten!“ Kaum hatte er zu Ende gedacht, stand er auch schon vor einer Birke. Erfreut setzte er sich ins feuchte Moos und lehnte sich an deren schneeweißen Stamm. Dann blickte er hinaus in die Nacht. Irgendwo flackerte ein Licht, um nach wenigen Momenten wieder zu erlöschen. Dann blitzte woanders ein Lichtschein. Und hier. Und dort. Und da. Überall flackerten zahllose Lichter auf, um ebenso schnell wieder zu verschwinden und an anderer Stelle von Neuem in die Nacht zu funkeln. Doch plötzlich kamen die Lichter auf ihn zu, rückten ihm immer näher und näher auf den Leib.

„Na, da habe ich sie nun doch gefunden, meine Irrlichter“, sagte unerwartet eine Stimme. Der Wichtel stand wieder neben Heinrich.

Dieser hatte zu schwitzen begonnen. Heiße und kalte Schauer rannen ihm den Rücken hinab, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er sprang auf und schrie verzweifelt in die Nacht hinaus: „Geht weg, geht weg! Lasst mich in Ruhe! Fort mit euch! Verschwindet! Weg von mir!“

Mooriin grinste. Dann schnippte er einmal mit den Fingern und die Irrlichter, die sich inzwischen dicht gedrängt vor der Birke versammelt hatten, verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren.

„Ganz so furchtlos, wie du glaubst, scheinst du doch nicht zu sein“, sagte er. „Am besten wartest du unter diesem Baum die Nacht ab und gehst dann nach Hause.“ Dann verschwand auch er.

Nun war Heinrich allein mit dem Moor und der Nacht. Er stand noch immer unter der Birke und keuchte vor Furcht. „Die Irrlichter sind verschwunden“, dachte er, „doch wer weiß, wann sie wieder kommen? Was wollten sie überhaupt von mir? Sich rächen, weil ich ihre Existenz verleugnet habe?“

Die Angst in ihm wuchs wieder und raubte ihm langsam den Verstand. Da flammte weit entfernt ein einzelnes blauschimmerndes Licht auf.

„Ein Haus, ein Haus!“, rief Heinrich, „da muss ich hin, dort finde ich Schutz!“ Er rannte los.

„Bleib hier! Hast du nicht gehört, was der Wichtel sagte? Hier bist du in Sicherheit!“ rief eine Eule hinter ihm her. Doch Heinrich hörte sie nicht. Er rannte und stolperte über Wurzeln, raffte sich wieder auf, taumelte erneut. Mit lautem Platschen fiel er ins seichte Wasser, doch als er fluchend ans Ufer zurück wollte, gab der Grund unter ihm nach. Zuerst nur ein klein wenig, doch je mehr Heinrich zappelte und schrie, um so weicher wurde der Boden. Das Moor krallte sich an seinen Beinen fest und sog ihn ganz langsam ein. Heinrich schrie verzweifelt um Hilfe, doch niemand hörte ihn. Kurz bevor das Wasser über seinem Kopf zusammenschwappte, sah er mit hoffnungslosem Blick, wie das kleine Licht in der Ferne erlosch. Die Wolken gaben den Mond wieder frei und dieser beleuchtete einige Augenblicke Heinrichs Hand, bevor auch diese im Moor versank und der Wasserspiegel sich beruhigte.

Als Mooriin in der nächsten Nacht durch das Moor streifte, um Irrlichter zu suchen, schwebte über der Stelle, wo Heinrich untergegangen war, ein kleiner heller Schein. Ganz zaghaft flackerte er in der Dunkelheit. 

„So, Heinrich“, sagte Mooriin, „haben wir Zuwachs bekommen? Auch du wirst noch zu leuchten lernen!“


Zu diesem Märchen gehören die im unten stehenden Post eingestellten Illustrationen von Marianne Labisch.

Montag, 28. Dezember 2009

Irrlichter


Diese Illustrationen zu oben stehendem Märchen Irrlichter stammen von Marianne Labisch

(siehe auch unter http://ml-artbox.spaces.live.com).

 

Seltsame Geschichten aus einer seltsamen Welt

Herzlich willkommen in Numungos Multiversum. Hier präsentiere ich Euch Geschichten aus dieser und aus anderen Welten. Alles kann passieren, von real bis surreal. Wie real die Geschichten im Einzelnen für Euch sind, liegt nicht an mir, sondern an Euch. Viel Spaß beim Weltenbummeln! Über eine Rückmeldung Eurer Erfahrungen/Empfindungen beim Lesen freue ich mich!

Numungo

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