Sonntag, 14. Februar 2010

Der kirschblütenfarbene Morgen

»Hmmh«, murmelte Boku, »wie seltsam, wie seltsam!« Dann überflog er das wunderliche Telegramm ein weiteres Mal.

Sehr verehrter Herr Boku Kendo.

in einer äußerst ungewöhnlichen Angelegenheit benötigen wir Ihren Rat. Bitte kommen Sie morgen früh kurz nach Sonnenaufgang zu den beiden Ulmen, wir erwarten Sie. Es wird kein Zuckerschlecken, aber bitte, kommen sie trotzdem!

Hochachtungsvoll

Wir.


Boku saß auf der Veranda seines Häuschens und lauschte in die Nacht. Noch nie hatte er einen solch eigenartigen Brief erhalten. Natürlich wurde er oft um Rat gefragt, das war nichts Außergewöhnliches. Merkwürdig war viel mehr der seltsame Unterzeichner: Wir! Und die Tatsache, dass er irgendwohin bestellt wurde. Gewöhnlich kamen die Leute zu ihm.

Ein Windstoß fuhr durch die Dunkelheit. Die Flamme der Kerze auf dem Tisch flackerte. Dann erlosch sie ganz. Gedankenverloren betrachtete Boku die aus dem glimmenden Docht emporsteigende dünne Rauchsäule.

                                                      *

Kirschblütenfarbenes Licht kroch aus dem frühen Morgen, der sich die Berge herabwälzte. Auf dem Geländer der Veranda sang eine Amsel ihr Lied. Boku rieb sich die Augen, als er in den frischen Tag blickte. Er war wohl über seinen Gedanken eingeschlafen.

»Ach ja, das Telegramm! Die beiden Ulmen!« Er stand auf, ging ins Haus, um sich umzuziehen. Für ein Frühstück fehlte die Zeit. Denn er musste ja bald los. Noch nie hatte er eine Bitte um Rat abgeschlagen.

»Wenn ich nur wüsste, wo das ist, bei den beiden Ulmen«, murmelte er vor sich hin. Natürlich kannte er viele Ulmen. Manche standen alleine, viele zu zweien und noch mehr in größeren Gruppen. Auf Anhieb fielen ihm mindestens zehn Zweierulmengruppen ein.

Als er eine Weile gegangen war, begegnete er einem Hasen. Dieser hockte am Wegrand und verdrückte den Löwenzahn, der unvorsichtig genug war, dort zu wachsen.
»Mein lieber Herr Hase«, sagte Boku, »ich werde erwartet. Bei den beiden Ulmen. Doch ich weiß nicht von wem und auch nicht bei welchen Ulmen. Vielleicht kannst du mit deinen langen Ohren hören, wohin ich gehen soll?«

Der Hase unterbrach sein Kauen für eine Weile. Nachdenklich wiegte er seinen Kopf. Die sonnengelben Blütenblätter des Löwenzahns ragten noch zwischen seinen langen Vorderzähnen heraus.

»Nichts leichter als das!«, sagte er dann, stellte sich auf die Hinterbeine und lauschte in den kirschblütenfarbenen Morgen. Seine Löffel peilten in alle Richtungen. Nach einer Weile setzte er sich wieder.

»Ganz so einfach war es doch nicht, aber ich glaube, ich kann dir helfen. Gehe einfach diesen Weg entlang nach Norden, dort hörte ich Stimmen. Und zwei Ulmen findest du auch, das weiß ich. Vielleicht sind es jene, die du suchst.«

»Herzlichen Dank, Herr Hase!«, sagte Boku und verbeugte sich. Doch dieser widmete sich bereits wieder seinem Frühstück.

Boku ging weiter. Endlich tauchten hinter einem Hügel zwei Ulmen auf. Ein schmaler Gebirgsbach mit kristallklarem Wasser hatte sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch gegraben. Vor einem der Bäume stand eine verwitterte hölzerne Bank, auf der fünf Raben hockten.

»Guten Morgen, Herr Kendo!«, riefen sie im Chor. »Schön, dass Sie gekommen sind!«

»Es tut mir Leid, das ich so spät bin,«, antwortete Boku. »Leider ist es schon nach Sonnenaufgang.«

»Aber das macht doch nichts«, sagte der größte der Raben und sah dabei zu einem riesigen Berg empor.

Boku folgte seinem Blick. Tatsächlich war der Berg so hoch, dass die Sonne gerade erst über seinen Kamm stieg. Das kirschblütenfarbene Licht floss zäh die bewaldeten Hänge herunter wie glühende Lava an einem Vulkan. Also war er doch noch rechtzeitig gekommen.

Die Raben musterten ihn schweigend. Boku räusperte sich. Das Rauschen des Gebirgsbaches wurde lauter. Er trug das kirschblütenfarbene Licht heran. Es war so viel Licht, dass das Bachbett es nicht mehr fassen konnte. Es trat über die Ufer und im Nu waren Boku, die beiden Ulmen und die fünf Raben auf der Bank eingehüllt. Eingehüllt in einen kirschblütenfarbenen Morgen.

Einer der Raben legte seinen Kopf schräg und sah Boku fragend an.

»Ist das die ungewöhnliche Angelegenheit?«

Die Raben nickten. Der Kleinste krächzte: »Jeden Morgen ist das so. Das kirschblütenfarbene Licht strömt den Berg herab, sammelt sich im Bach und dieser tritt dann genau hier, vor unserer Bank über die Ufer.«

»Und wie kann ich euch dabei helfen?«

»Wie sie sicher wissen, Herr Kendo, sind wir Rabenvögel sehr schlaue Tiere. Doch das hier können wir uns beim besten Willen nicht erklären. Wir hoffen, dass Sie eine Erklärung für uns finden. Oder zumindest einen Rat beitragen können, wie wir mit der Situation umgehen sollen.«

Boku kratzte sich nachdenklich am Kopf. Wie gerne hätte er den Raben geholfen, doch was konnte er schon gegen kirschblütenfarbenes Licht ausrichten? »Hmmh, ein wirklich schwerwiegendes Problem. Andererseits könnte man die Sache auch anders betrachten.«

»Wie meinst du das?«, fragten alle wie aus einem Schnabel.

»Na ja, wenn ich es genau betrachte, ist das kirschblütenfarbene Licht doch wunderschön. Und es tut niemandem etwas. Im Gegenteil, macht es den Morgen nicht fröhlicher?«

Die Raben steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Nach einer Weile wandten sie sich wieder Boku zu:

»Ja, du hast recht«, sagte der Älteste. »Aus dieser Sicht hatten wir es noch nicht betrachtet. In der Gegend, aus der wir stammen, gibt es kein kirschblütenfarbenes Licht. Und da es neu und unbekannt für uns war, hielten wir es für ein Problem. Wir danken dir und wir schämen uns für unsere begrenzte Sichtweise.«

Dann verbeugten sie sich der Reihe nach und flatterten laut krächzend davon. Boku blieb alleine im kirschblütenfarbenen Morgen zurück. Zufrieden lächelte er ihnen nach.

Seltsame Geschichten aus einer seltsamen Welt

Herzlich willkommen in Numungos Multiversum. Hier präsentiere ich Euch Geschichten aus dieser und aus anderen Welten. Alles kann passieren, von real bis surreal. Wie real die Geschichten im Einzelnen für Euch sind, liegt nicht an mir, sondern an Euch. Viel Spaß beim Weltenbummeln! Über eine Rückmeldung Eurer Erfahrungen/Empfindungen beim Lesen freue ich mich!

Numungo

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