Tief in Gedanken versunken sitze ich am Ufer des Rio Papagaio und starre hinab in das langsam dahin strömende Wasser. Meine Augen durchdringen mühelos das kristallklare Nass und mein Blick reicht weit hinunter auf den felsigen Grund. Fische huschen vorüber, schweben auf der Stelle und manchmal treibt ein abgefallenes Blatt über mein sich auf der Wasseroberfläche spiegelndes Gesicht. Ich sehe einen Menschen mit einem bunten, in fröhlichen Farben schimmernden Kopfschmuck und einem Nasenpiercing, das aus einem langen durch die Nasenscheidewand gesteckten Holzstäbchen besteht, an dessen linken Ende schmale, blaue Federn befestigt sind. Doch die Festlichkeit meines Schmuckes erscheint mir wie aufgesetzt auf dieses fast schon grau wirkende Gesicht, das mir entgegen blickt. Mein Blick ist genauso trübe wie meine Gedanken. Da hilft auch die hervorragende körperliche Sehfähigkeit nichts. Ich nehme nicht wahr, was um mich her geschieht. Nicht mehr.
Ich komme oft an diesen Ort, um nachzudenken. Hier bin ich alleine und niemand stört mich. Für mich ist es ein magischer Ort, der mir hilft, den Sinn der Dinge zu ergründen. Vor langer Zeit konnte ich tief unten am Grund des Flusses die Zukunft lesen. Die Zukunft meines Volkes. Doch jetzt ist mein Blick verschleiert, ich kann nichts mehr erkennen, auch wenn das Wasser noch so klar ist. Mein Blick ist im Hier und Jetzt gefangen und kommt nicht mehr weiter. Das Wenige, das ich noch ausmache, erschreckt mich, denn es hat nichts mit Zukunft zu tun: alles was ich erkenne, ist mein Volk, wie es im Niemandsland zwischen Tradition und Moderne fest sitzt und weder in die eine noch in die andere Richtung weiter kommt. Ich sehe ein Volk, das sich selbst verloren hat und das sich nie wieder finden wird. Nie wieder! Eine schreckliche Vorstellung. Und dennoch ist es nicht nur eine Vorstellung.
Ich weiß, dass meine Weissagungen wahr sind und genau das ist es, was mich so traurig und verzweifelt macht! Die Gewissheit, dass mein Volk dem Untergang geweiht ist. Doch wie soll ich es ihm beibringen? Darf ich es ihm sagen? Aber wahrscheinlich wissen es meine Leute schon längst oder ahnen es zumindest. Es ist ein langer, langsamer Tod, der uns bestimmt ist.
Den Rio Papagaio gibt es wirklich. Sein Wasser strömt nach wie vor aus den fernen Bergen durch endlose Urwälder zum weit entfernten Meer. Doch das Land in dem wir leben gibt es nicht mehr. Nicht für uns. Denn es gehört uns nicht mehr. Wir leben im Niemandsland, das dort liegt, wo einmal unser Land war. Unser Land! Längst habe ich vergessen, wie es einmal hieß, als wir es noch "unser" nennen konnten. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Niemand aus meinem Volk kann sich mehr erinnern. Und auch niemand anders.
Das Niemandsland gibt es überall, nicht nur hier am Rio Papagaio. Doch wie bei uns, ist es nirgendwo von Dauer. Es liegt überall dort, wo Völker entwurzelt und ihrer Tradition beraubt wurden. Ganz von selbst wird es immer kleiner und kleiner. Es schrumpft mit der Zahl seiner Bewohner, egal, wo es liegt. Mal schneller und mal langsamer. Das Niemandsland frisst seine Menschen auf. Es erdrückt sie, es würgt sie und wenn dem letzten Bewohner die Luft ausgegangen ist, löst es sich ganz von selbst auf. Gerade so, als hätte es niemals existiert. Mit dem letzten Bewohner werden auch die letzten Erinnerungen getilgt. Wir sind ein Volk am Ende seiner Zeit. Wir sind ein Volk am Ende der Erinnerung.
Das Schlimme daran ist, dass auch die Erinnerung an das, was vor dem Niemandsland war, ausgelöscht wird. Wenn unser Niemandsland verschwindet, dann verschwinden auch die Erinnerungen an mich und mein Volk. Dann ist es, als hätte es uns niemals gegeben. Die Ewigkeit walzt über uns hinweg und zermalmt uns. Doch was soll ich tun? Was kann ich tun? Was können wir tun?
Inzwischen ist es Nacht geworden. Dunkelheit hat sich über den Wald gelegt. Der Mond gießt sein kühles Licht über den trägen Fluss und blickt von der schwarzen Oberfläche des Wassers zu mir herauf.
"Was kann ich tun?!" schreie ich ihm verzweifelt ins Gesicht. "Sag mir, was ich tun kann?!"
Doch der Mond zieht es vor zu Schweigen. Vielleicht will er sich nicht einmischen. Oder er ist genauso hilflos wie ich. Ohne jede Regung starrt er stumpf zu mir zurück. Erst als ich mich von ihm abwende und in die Nacht davon gehen will, vernehme ich eine sanfte Stimme:
"Du musst in eine andere Welt wechseln. Nimm dein Volk und geh in eine andere Welt."
War es der Mond, der zu mir gesprochen hat? Als ich zurück blicke, liegt die Wasseroberfläche immer noch genauso glatt und ruhig vor mir, wie zuvor. Und auch der darauf liegende Mond ist noch genauso stumm. Da hallt die Stimme erneut durch meinen Kopf. Doch wohin ich auch blicke ins Dunkel der Nacht, ich kann niemanden erkennen. Oder spricht gar niemand zu mir? Kommt die Stimme aus mir selbst?
Da ich den Sprecher nicht ausmachen kann, rufe ich in die Stille des Niemandslandes hinein:
"Und wo soll ich diese Welt finden? Wo muss ich sie suchen, die Welt, von der du sprichst? In welche Richtung muss ich mich wenden? Wohin soll ich mein Volk führen?"
"Du sollst nirgendwo hin gehen", sagt die Stimme, "die Welt, in der du mit deinem Volk überleben kannst, findest du nicht hier draußen. Diese Welt findest du nur in dir selbst."
Nun erst bin ich mir sicher, dass niemand zu mir gesprochen hat. Endlich ist es mir gelungen, wieder einen Blick in die Zukunft meines Volkes zu tun. Die Trübnis vor meinen Augen ist verschwunden und ich kann meiner Aufgabe als Seher meines Volkes wieder nachkommen und in die Zukunft schauen. Und das, was ich sehe, zeigt mir: die Zukunft meines Volkes liegt nicht in dieser Welt. Und sie liegt auch nicht im Niemandsland. Wir müssen uns ein eigenes Land schaffen, ein Land, das nur in unseren Köpfen existiert. Ein Land, das uns niemand nehmen kann. Das wird nicht einfach werden. Doch es ist unsere einzige Chance ...
Copyright 2008 Numungo