Dienstag, 29. Dezember 2009

Irrlichter

Vor langer, langer Zeit irrte ein junger Mann in einer Vollmondnacht ziellos durch das Moor. Er lief von hier nach da, ging dorthin und wieder zurück und abermals woanders hin. Aber er ging nicht wie ein Verirrter. Manchmal blieb er stehen und betrachtete einen Gegenstand, der seinen Weg kreuzte. Ein andermal blickte er hinauf in den Himmel, als zeigte sich dort etwas. Zwischendurch pfiff er ein Lied, dessen Töne so schrecklich falsch aus seiner Zahnlücke drangen, dass die Tiere der Nacht lieber in ihrem Bau blieben. Als er gerade wieder die Äste eines Gebüschs auseinander schob, um zu sehen, was sich dahinter verbarg, schimpfte augenblicklich eine hohe, schrille Stimme in die Nacht: „Ei,ei, wer pfeift denn da so schaurig falsch! Hör auf zu fiepen, du machst uns ja alle verrückt!“

Erschrocken wandte sich der Schustergeselle um. Vor lauter Angst vergaß er sogar das Pfeifen. Doch solange er sich auch umsah, er konnte niemanden erkennen.

„Na also, geht doch“, rief die Stimme wieder, „was dir auch einfällt!“

Erst jetzt bemerkte der Schustergeselle das kleine Männchen, das aus dem Schutz einer Krüppelkiefer hervorgetreten war und sich vor ihm aufbaute. Es war so klein, dass es ihm kaum bis an die Knie reichte. Da musste der Schustergeselle über sich selbst lachen, wie hatte er sich auch nur vor einem solchen Wichtel fürchten können!

„Wie heißt du“, fragte das Männchen.

„Was geht dich das an?“, antwortete der Schustergeselle unwirsch. „Verrate zuerst du deinen Namen!“

„Hier im Moor nennt man mich Mooriin und ich sage dir, wir Moorbewohner sind so unfreundliche Leute wie dich nicht gewohnt.“

Mit diesen Worten hatte der Wichtel den Schustergesellen für einen kurzen Moment beschämt, obwohl dieser auch sonst kein besonders einfühlsamer Zeitgenosse war.

„Meine Eltern gaben mir den Namen Heinrich,“ antwortete er, ärgerte sich jedoch im selben Augenblick darüber, dass er plötzlich so freundlich war.

„Weshalb läufst du so ziellos des Nachts durch das Moor“, fragte Mooriin. „Hast du dich verlaufen?“

„Nein, verirrt habe ich mich nicht“, sagte Heinrich.

„Was willst du dann hier? Suchst du jemanden?“

„Nein, ich suche auch niemanden. Ich bin nur hier, weil ich mit meinen Freunden gewettet habe, dass ich mich nicht vor Irrlichtern fürchte. Und diese Wette ist nicht schwer zu gewinnen. Denn es gibt keine Irrlichter. Aber um das zu beweisen, muss ich eine Nacht im Moor zubringen. Meine Freunde erwarten mich bei Sonnenaufgang an der Straße, die vom Moor zum Dorf führt.“

Nun lag auf Heinrichs Gesicht erneut dieses höhnische Grinsen, das er immer zur Schau stellte, sobald er andere für Dummköpfe hielt.

„Du solltest du dich unter einen Baum setzen, um auf den Morgen zu warten“, sagte Mooriin, „im Finstern ist es gefährlich im Moor. Du könntest vom Weg abkommen und im Sumpf untergehen.“

„Dann setz du dich doch unter einen Baum, wenn dein Herz vor Angst stehen bleibt! Ich fürchte mich nicht. Siehst du nicht, wie gut der Vollmond die Nacht erhellt?“

„Das Moor hat sich schon viele Menschen geholt“, sagte der Wichtel. „Nicht wenige bei strahlendem Sonnenschein!“

„Wenn es hier so gefährlich sein soll, was treibt dich dann so spät noch durch die Dunkelheit?“, fragte der junge Mann.

„Ich suche Irrlichter.“

Da begann Heinrich lautstark und höhnisch zu lachen.

„Irrlichter sucht der Wichtel“, schrie er in die Nacht hinaus, „Irrlichter, ha-ha-ha-ha-ha, ..., wo doch jedes kleine Kind weiß, dass es keine Irrlichter gibt. Nein, so etwas!“

Nachdem er sein scheußliches Gelächter beendet hatte, war das Männchen fort. Als hätte es sich in Luft aufgelöst. Mit ihm war auch der Mond verschwunden. Dichte Wolken hatten sich über den Himmel geschoben und die Nacht wurde so dunkel, dass der junge Mann kaum noch etwas sehen konnte. Er taumelte durch das Moor und dachte bei jedem Schritt: „Was gäbe ich jetzt für einen Baum, an dessen Stamm ich mich anlehnen könnte, um auf den neuen Tag zu warten!“ Kaum hatte er zu Ende gedacht, stand er auch schon vor einer Birke. Erfreut setzte er sich ins feuchte Moos und lehnte sich an deren schneeweißen Stamm. Dann blickte er hinaus in die Nacht. Irgendwo flackerte ein Licht, um nach wenigen Momenten wieder zu erlöschen. Dann blitzte woanders ein Lichtschein. Und hier. Und dort. Und da. Überall flackerten zahllose Lichter auf, um ebenso schnell wieder zu verschwinden und an anderer Stelle von Neuem in die Nacht zu funkeln. Doch plötzlich kamen die Lichter auf ihn zu, rückten ihm immer näher und näher auf den Leib.

„Na, da habe ich sie nun doch gefunden, meine Irrlichter“, sagte unerwartet eine Stimme. Der Wichtel stand wieder neben Heinrich.

Dieser hatte zu schwitzen begonnen. Heiße und kalte Schauer rannen ihm den Rücken hinab, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er sprang auf und schrie verzweifelt in die Nacht hinaus: „Geht weg, geht weg! Lasst mich in Ruhe! Fort mit euch! Verschwindet! Weg von mir!“

Mooriin grinste. Dann schnippte er einmal mit den Fingern und die Irrlichter, die sich inzwischen dicht gedrängt vor der Birke versammelt hatten, verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren.

„Ganz so furchtlos, wie du glaubst, scheinst du doch nicht zu sein“, sagte er. „Am besten wartest du unter diesem Baum die Nacht ab und gehst dann nach Hause.“ Dann verschwand auch er.

Nun war Heinrich allein mit dem Moor und der Nacht. Er stand noch immer unter der Birke und keuchte vor Furcht. „Die Irrlichter sind verschwunden“, dachte er, „doch wer weiß, wann sie wieder kommen? Was wollten sie überhaupt von mir? Sich rächen, weil ich ihre Existenz verleugnet habe?“

Die Angst in ihm wuchs wieder und raubte ihm langsam den Verstand. Da flammte weit entfernt ein einzelnes blauschimmerndes Licht auf.

„Ein Haus, ein Haus!“, rief Heinrich, „da muss ich hin, dort finde ich Schutz!“ Er rannte los.

„Bleib hier! Hast du nicht gehört, was der Wichtel sagte? Hier bist du in Sicherheit!“ rief eine Eule hinter ihm her. Doch Heinrich hörte sie nicht. Er rannte und stolperte über Wurzeln, raffte sich wieder auf, taumelte erneut. Mit lautem Platschen fiel er ins seichte Wasser, doch als er fluchend ans Ufer zurück wollte, gab der Grund unter ihm nach. Zuerst nur ein klein wenig, doch je mehr Heinrich zappelte und schrie, um so weicher wurde der Boden. Das Moor krallte sich an seinen Beinen fest und sog ihn ganz langsam ein. Heinrich schrie verzweifelt um Hilfe, doch niemand hörte ihn. Kurz bevor das Wasser über seinem Kopf zusammenschwappte, sah er mit hoffnungslosem Blick, wie das kleine Licht in der Ferne erlosch. Die Wolken gaben den Mond wieder frei und dieser beleuchtete einige Augenblicke Heinrichs Hand, bevor auch diese im Moor versank und der Wasserspiegel sich beruhigte.

Als Mooriin in der nächsten Nacht durch das Moor streifte, um Irrlichter zu suchen, schwebte über der Stelle, wo Heinrich untergegangen war, ein kleiner heller Schein. Ganz zaghaft flackerte er in der Dunkelheit. 

„So, Heinrich“, sagte Mooriin, „haben wir Zuwachs bekommen? Auch du wirst noch zu leuchten lernen!“


Zu diesem Märchen gehören die im unten stehenden Post eingestellten Illustrationen von Marianne Labisch.

Montag, 28. Dezember 2009

Irrlichter


Diese Illustrationen zu oben stehendem Märchen Irrlichter stammen von Marianne Labisch

(siehe auch unter http://ml-artbox.spaces.live.com).

 

Sonntag, 22. März 2009

Nachdenken

Gestern noch saß ich unter einem Baum und grübelte. Intensiv und angestrengt dachte ich nach, zog diese oder jene Lösung in Betracht, wog alle Möglichkeiten sorgfältig gegeneinander ab, verdrängte dabei alles um mich her, jeden unnützen Gedanken und konnte mich am Ende bei bestem Willen nicht mehr an mein Problem erinnern, so angestrengt ich auch nachdachte.

Dienstag, 10. März 2009

Das Streifennashorn

Ich schüttelte den Kopf bei offenem Mund und dabei schwabbelten meine Lippen wie bei einem Streifenashorn locker hin und her. Nun weiß ich freilich, dass es keine Streifenashörner gibt, doch das macht nichts - ich jedenfalls kann sie mir vorstellen.

Copyright 2008, Numungo

Betrachtungen eines Raben (5)

»Du kannst dir nie sicher sein, dass das, was du in deiner Erinnerung siehst, auch wahr ist«, sagte der Rabe.«

»Weshalb sollten meine Erinnerungen nicht wahr sein?«, wollte ich wissen. »Es sind doch meine Erinnerungen!«

„Ganz einfach“, fuhr Ibrahim fort, „manche Dinge, die dir heute in der Erinnerung klar und deutlich vor Augen stehen, sind vielleicht gar nicht so gewesen, wie sie dir scheinen. Das mag daran liegen, dass du heute die Dinge im Licht späterer Ereignisse und Erfahrungen betrachtest und somit auch zu anderen Schlüssen kommst, welche wiederum in deiner Erinnerung die ursprünglichen Ereignisse verfälschen. Das und die Tatsache, dass jeder Mensch die Dinge aus seinem eigenen Blickwinkel betrachtet, wird auch der Grund sein, weshalb sich verschiedene Menschen an dasselbe Ereignis auf unterschiedliche Weise erinnern. So einfach ist das. Und doch so kompliziert.«

Copyright 2009 Numungo

Betrachtungen eines Raben (4)

»Ist es nicht seltsam«, fragte der Rabe Ibrahim, »wir fahren japanische Autos, hören Musik aus japanischen Abspielgeräten und verwenden täglich unzählige andere Elektrogeräte made in Japan. Und doch wissen wir nichts über Japan. Nichts über das Land und noch weniger über die Menschen. Was viele von uns erinnern, sind die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, wir wissen noch, dass Tokio eine sehr große Stadt ist, manche haben vielleicht auch schon von Samurais oder Geishas gehört, ohne sich das Richtige darunter vorstellen zu können und einige wissen noch, dass der Fudschijama als heiliger Berg verehrt wird. Neuerdings ist wohl auch Sushi ein Begriff. Und das war es. Als ob damit ein Land oder gar ein Volk erklärt werden könnte!«

Copyright 2009 Numungo

Betrachtungen eines Raben (3)

»Wie heißt du«, fragte ich den Raben.

»Ibrahim!«, antwortete er.

»Wie denn das?«, fragte ich, verwundert über den orientalischen Namen.

»Ibrahim bedeutet Führer, Meister. Ich führe die Menschen dahin, wo sie von selbst nicht hinfinden. Ich führe die Menschen durch ihr Leben.«

Copyright 2009 Numungo

Sonntag, 22. Februar 2009

Betrachtungen eines Raben (2)

Der Rabe taxierte mich scharf. »Kennst du die Geschichte von dem Mann auf dem Zaun?«, fragte er.

Ich verneinte. Natürlich kannte ich diese Geschichte nicht.

»Ein Mann saß auf einem Zaun«, fuhr der Rabe fort. »Es war der Zaun, den er in sein Leben eingezogen hatte. Der Zaun war die Grenze zwischen der Welt und seinem Ich. Jeden Tag saß er da und wachte darüber, dass niemand diese Grenze überschritt.«

Eine seltsame Geschichte, doch mir war nicht klar, was der Rabe damit sagen wollte. Wollte er überhaupt etwas sagen? Ich saß auf meinem Zaun und schüttelte wortlos den Kopf.

Copyright 2009 Numungo

Betrachtungen eines Raben (1)

»Alles ist nur eine Frage der Perspektive«, sagte der Rabe. Dann hüpfte er auf mich zu, bis er nahe bei meinen Fußspitzen saß und blickte mir in die Augen.

»Von hier unten siehst du aus wie ein riesengroßer Affe«, sagte er und lachte spöttisch. Dann flatterte er auf, setzte sich auf meinen Kopf und rief: »Und von hier gleichst du einem Stück Pelz ohne Irgendetwas!«

Er flog weiter auf den höchsten Ast einer nahen Eiche und krächzte: »Und von hier oben siehst du aus wie eine Ameise mit Perücke!«

Dann hob er erneut ab und ruhte erst wieder, als er den Mond erreicht hatte. Abermals hörte ich seine Stimme: »Und von hier betrachtet bist du ein Nichts!«

Copyright 2009 Numungo

Freitag, 6. Februar 2009

Rio Papagaio

Tief in Gedanken versunken sitze ich am Ufer des Rio Papagaio und starre hinab in das langsam dahin strömende Wasser. Meine Augen durchdringen mühelos das kristallklare Nass und mein Blick reicht weit hinunter auf den felsigen Grund. Fische huschen vorüber, schweben auf der Stelle und manchmal treibt ein abgefallenes Blatt über mein sich auf der Wasseroberfläche spiegelndes Gesicht. Ich sehe einen Menschen mit einem bunten, in fröhlichen Farben schimmernden Kopfschmuck und einem Nasenpiercing, das aus einem langen durch die Nasenscheidewand gesteckten Holzstäbchen besteht, an dessen linken Ende schmale, blaue Federn befestigt sind. Doch die Festlichkeit meines Schmuckes erscheint mir wie aufgesetzt auf dieses fast schon grau wirkende Gesicht, das mir entgegen blickt. Mein Blick ist genauso trübe wie meine Gedanken. Da hilft auch die hervorragende körperliche Sehfähigkeit nichts. Ich nehme nicht wahr, was um mich her geschieht. Nicht mehr.

Ich komme oft an diesen Ort, um nachzudenken. Hier bin ich alleine und niemand stört mich. Für mich ist es ein magischer Ort, der mir hilft, den Sinn der Dinge zu ergründen. Vor langer Zeit konnte ich tief unten am Grund des Flusses die Zukunft lesen. Die Zukunft meines Volkes. Doch jetzt ist mein Blick verschleiert, ich kann nichts mehr erkennen, auch wenn das Wasser noch so klar ist. Mein Blick ist im Hier und Jetzt gefangen und kommt nicht mehr weiter. Das Wenige, das ich noch ausmache, erschreckt mich, denn es hat nichts mit Zukunft zu tun: alles was ich erkenne, ist mein Volk, wie es im Niemandsland zwischen Tradition und Moderne fest sitzt und weder in die eine noch in die andere Richtung weiter kommt. Ich sehe ein Volk, das sich selbst verloren hat und das sich nie wieder finden wird. Nie wieder! Eine schreckliche Vorstellung. Und dennoch ist es nicht nur eine Vorstellung.

Ich weiß, dass meine Weissagungen wahr sind und genau das ist es, was mich so traurig und verzweifelt macht! Die Gewissheit, dass mein Volk dem Untergang geweiht ist. Doch wie soll ich es ihm beibringen? Darf ich es ihm sagen? Aber wahrscheinlich wissen es meine Leute schon längst oder ahnen es zumindest. Es ist ein langer, langsamer Tod, der uns bestimmt ist. 

Den Rio Papagaio gibt es wirklich. Sein Wasser strömt nach wie vor aus den fernen Bergen durch endlose Urwälder zum weit entfernten Meer. Doch das Land in dem wir leben gibt es nicht mehr. Nicht für uns. Denn es gehört uns nicht mehr. Wir leben im Niemandsland, das dort liegt, wo einmal unser Land war. Unser Land! Längst habe ich vergessen, wie es einmal hieß, als wir es noch "unser" nennen konnten. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Niemand aus meinem Volk kann sich mehr erinnern. Und auch niemand anders.

Das Niemandsland gibt es überall, nicht nur hier am Rio Papagaio. Doch wie bei uns, ist es nirgendwo von Dauer. Es liegt überall dort, wo Völker entwurzelt und ihrer Tradition beraubt wurden. Ganz von selbst wird es immer kleiner und kleiner. Es schrumpft mit der Zahl seiner Bewohner, egal, wo es liegt. Mal schneller und mal langsamer. Das Niemandsland frisst seine Menschen auf. Es erdrückt sie, es würgt sie und wenn dem letzten Bewohner die Luft ausgegangen ist, löst es sich ganz von selbst auf. Gerade so, als hätte es niemals existiert. Mit dem letzten Bewohner werden auch die letzten Erinnerungen getilgt. Wir sind ein Volk am Ende seiner Zeit. Wir sind ein Volk am Ende der Erinnerung.

Das Schlimme daran ist, dass auch die Erinnerung an das, was vor dem Niemandsland war, ausgelöscht wird. Wenn unser Niemandsland verschwindet, dann verschwinden auch die Erinnerungen an mich und mein Volk. Dann ist es, als hätte es uns niemals gegeben. Die Ewigkeit walzt über uns hinweg und zermalmt uns. Doch was soll ich tun? Was kann ich tun? Was können wir tun?

Inzwischen ist es Nacht geworden. Dunkelheit hat sich über den Wald gelegt. Der Mond gießt sein kühles Licht über den trägen Fluss und blickt von der schwarzen Oberfläche des Wassers zu mir herauf. 

"Was kann ich tun?!" schreie ich ihm verzweifelt ins Gesicht. "Sag mir, was ich tun kann?!"

Doch der Mond zieht es vor zu Schweigen. Vielleicht will er sich nicht einmischen. Oder er ist genauso hilflos wie ich. Ohne jede Regung starrt er stumpf zu mir zurück. Erst als ich mich von ihm abwende und in die Nacht davon gehen will, vernehme ich eine sanfte Stimme:

"Du musst in eine andere Welt wechseln. Nimm dein Volk und geh in eine andere Welt."

War es der Mond, der zu mir gesprochen hat? Als ich zurück blicke, liegt die Wasseroberfläche immer noch genauso glatt und ruhig vor mir, wie zuvor. Und auch der darauf liegende Mond ist noch genauso stumm. Da hallt die Stimme erneut durch meinen Kopf. Doch wohin ich auch blicke ins Dunkel der Nacht, ich kann niemanden erkennen. Oder spricht gar niemand zu mir? Kommt die Stimme aus mir selbst?

Da ich den Sprecher nicht ausmachen kann, rufe ich in die Stille des Niemandslandes hinein:

"Und wo soll ich diese Welt finden? Wo muss ich sie suchen, die Welt, von der du sprichst? In welche Richtung muss ich mich wenden? Wohin soll ich mein Volk führen?"

"Du sollst nirgendwo hin gehen", sagt die Stimme, "die Welt, in der du mit deinem Volk überleben kannst, findest du nicht hier draußen. Diese Welt findest du nur in dir selbst."

Nun erst bin ich mir sicher, dass niemand zu mir gesprochen hat. Endlich ist es mir gelungen, wieder einen Blick in die Zukunft meines Volkes zu tun. Die Trübnis vor meinen Augen ist verschwunden und ich kann meiner Aufgabe als Seher meines Volkes wieder nachkommen und in die Zukunft schauen. Und das, was ich sehe, zeigt mir: die Zukunft meines Volkes liegt nicht in dieser Welt. Und sie liegt auch nicht im Niemandsland. Wir müssen uns ein eigenes Land schaffen, ein Land, das nur in unseren Köpfen existiert. Ein Land, das uns niemand nehmen kann. Das wird nicht einfach werden. Doch es ist unsere einzige Chance ...

Copyright 2008 Numungo

Dienstag, 3. Februar 2009

Traumreise - Die Berghütte

Traumreisen sind meditative Übungen, die helfen sollen, aus dem Alltagstrott heraus zu kommen oder ihn am besten ganz zu vergessen. Traumreisen haben immer einen Ausgangsort, der am besten ein Lieblingsort des Traumreisenden ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob er real oder fiktiv ist. Mein Lieblingsort befindet sich unter einer Weide an einem Bach. Ich setze mich unter den Baum, lehne mich an seinen Stamm, schließe die Augen und träume mich weg ...

Ich gehe über eine sommerliche Blumenwiese am Bach entlang. Die Blumen blühen in allen Farben: gelb, rot, blau, violett, weiß. Grillen zirpen. Bienen summen. Hummeln brummen. Schmetterlinge flattern aufgeregt von Blüte zu Blüte. Vögel zwitschern. Das Wasser im Bach fließt glucksend und murmelnd zwischen den moos- und algenbewachsenen Steinen zu Tal. Es glitzert im Licht der frühen Morgensonne. Alles ist so ruhig und friedlich. Ich bin glücklich.

Nach einer Weile wendet sich der Weg vom Bach ab und führt über eine langgezogene Hügelkette hin zu den nahen Bergen. Das Gras steht hüfthoch und überall liegen riesige Felsbrocken verstreut, gerade so, als hätte ein Riese sie beim Spielen liegen gelassen. Schafe weiden zwischen den Felsen und blicken neugierig zu mir herüber. Im hohen Gras kann ich nur ihre Köpfe erkennen. Als ich das Bergmassiv erreicht habe, wendet sich der Weg wieder ab und führt mich an einer hohen Felswand entlang. Nach der nächsten Wegbiegung fällt mein Blick auf eine große Bergwiese, an deren hinterem Ende ein Haus steht, das vollkommen aus Holz erbaut zu sein scheint. Sogar das Dach ist mit hölzernen Schindeln eingedeckt. Als ich näher komme, erkenne ich, dass die Haustüre offen steht. Doch ich kann weit und breit niemanden sehen.

Ich gehe auf das Haus zu und rufe zur offenen Türe hinein, doch niemand antwortet. Also ziehe ich meine Schuhe aus und gehe hinein. Die Küche ist leer, aber im Kamin lodert ein Feuer. Ich setze mich auf eine Bank und blicke in die Flammen. Das Feuer knistert und flackert und zieht meinen Blick in sich hinein. Ich sehe mich und ich sehe meine Gedanken und ich frage, was ich fragen will. Es dauert nicht lange und ich spüre die Antwort aus dem Feuer. Es ist meine Antwort auf meine Frage. Als ich nichts mehr höre, bedanke ich mich, stehe auf und verlasse das Haus wieder. Ich gehe den ganzen Weg wieder zurück, über die Bergwiese, an der Felswand und den Schafen in den Hügeln vorbei, bis ich an meinem Lieblingsplatz am Bach angelangt bin und setze mich wieder unter die Weide ...


Copyright 2009 Numungo

Traumreise - Am Teich

Traumreisen sind meditative Übungen, die helfen sollen, aus dem Alltagstrott heraus zu kommen oder ihn am besten ganz zu vergessen. Sie dienen auch einem guten Start in den Tag. Traumreisen haben immer einen Ausgangsort, der am besten ein Lieblingsort des Traumreisenden ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob er real oder fiktiv ist. Mein Lieblingsort befindet sich unter einer Weide an einem Bach. Ich setze mich unter den Baum, lehne mich an seinen Stamm, schließe die Augen und träume mich weg ...

Ich stehe auf und gehe über eine sommerliche Blumenwiese bis hin zum nahen Teich. Die Blumen blühen in allen Farben: gelb, rot, blau, violett, weiß. Grillen zirpen. Bienen summen. Hummeln brummen. Schmetterlinge flattern aufgeregt von Blüte zu Blüte. Vögel zwitschern. Alles ist so ruhig und friedlich. Ich bin glücklich.

Es dauert nicht lange, bis ich den Teich erreicht habe. Still und glatt liegt er in der frühen Morgensonne. Ich ziehe mich aus, wate hinein, lasse mich fallen, schwimme ein paar Züge, drehe mich dann auf den Rücken und lasse mich treiben. Wasserläufer huschen über die Wasseroberfläche. Libellen schwirren um mich her. Auf dem Blatt einer gelb blühenden Teichmummel sitzt ein Frosch und quakt mit dick aufgeblähten Backen. Als mich zu frösteln beginnt, schwimme ich ans Ufer, steige aus dem Teich und streife mit den Händen das Wasser von meinem Körper. Dann lege ich mich in eine Mulde im Gras und lasse mich von der inzwischen schon wärmenden Sonne trocknen. Nachdem ich trocken bin, stehe ich auf, ziehe mich an und gehe zurück zu meinem Lieblingsplatz am Bach. Dort setze ich mich wieder unter die Weide und lehne meinen Rücken an ihren Stamm ...

Copyright 2009 Numungo

Donnerstag, 15. Januar 2009

Die Schwitzhütte

Endlich war die Schwitzhütte fertig. Einen ganzen Tag hatte ich daran gearbeitet. Nun setzte ich mich erschöpft ins Gras und betrachtete mein Werk. Die Hütte bestand aus einem kuppelförmigen Gerüst aus dicken, gebogenen Haselnussstöcken, die ich in der festgestampften, lehmigen Erde verankert hatte. Zwischen die Gerüststangen hatte ich frisch geschnittene Weidenruten eingeflochten und diese dann mit den riesigen Blättern des Pestwurz abgedeckt, so dass die Schwitzhütte nun ausreichend dicht war. In der Mitte der Hütte hatte ich noch eine kleine Grube gegraben und die Erde darin ebenfalls mit einem Holzklotz festgestampft.

Inzwischen war es dunkel geworden. Der Mond stand groß und hell am Himmel und übergoss das Land mit seinem kühlen Licht. Ich freute mich, dass ich die Schwitzhütte bis zur heutigen Vollmondnacht noch fertig bekommen hatte. Ich liebe die Vollmondnächte, denn sie verschieben die Grenzen der Welten.

Mittlerweile hatte ich ein Feuer entzündet und warf ein paar große Granitsteine aus dem nahen Fluss hinein. Als die Steine nach mehreren Stunden glühten, rollte ich sie mit Hilfe eines gegabelten Stocks in die Schwitzhütte und schob sie in die Grube in der Mitte der Hütte. Dann zog ich mich aus und legte mich nackt auf den Boden. Die gestampfte Erde war feucht und kühl, doch nach einer Weile verbreiteten die heißen Steine eine angenehme Wärme. Ich lag am Boden, fühlte die Frische der Erde, spürte die Hitze der Steine und blickte hinauf zum Mond, der groß und rund durch das Loch, dass ich in der Mitte der Kuppel der Schwitzhütte ausgespart hatte, herein sah. Es war ein wunderbares Gefühl und ich war glücklich. 

Nachdem ich dem Mond eine Weile ins Auge geblickt hatte, setzte ich mich auf und streute eine Handvoll getrocknete Kräuter über die heißen Steine. Ein angenehm würziger Duft breitete sich aus. Dann goss ich eine Schale Wasser darüber. Eine dicke Dampffontäne stieg auf, walzte mit stechender Hitze über mich hinweg und raubte mir dabei fast den Atem. Die Steine knackten und der Mond verschwand hinter der Dampfwolke, als wäre er vom Himmel verschlungen worden. Durch die Hitze musste ich die Augen wohl geschlossen haben und als ich sie öffnete, war der Mond wieder da. Es war derselbe Mond und er streute sein Licht genauso kühl und hell vom Himmel, doch ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mich noch dort befand, wo ich vor dem Aufguss gewesen war: in meiner Schwitzhütte. Der Geruch der verbrannten Kräuter hing noch immer in der Luft, doch alles andere um mich her schien vollkommen verändert. Meine Schwitzhütte war einem aus großen, schwarzen Steinquadern gemauerten Raum gewichen, dessen Decke zu einem steinernen Gewölbe zusammen lief. Am höchsten Punkt der Kuppel befand sich ein großes Loch, durch das der Mond herein schien. An zwei Seiten des Raumes befanden sich gemauerte Liegen. Ich saß auf einer davon. Und ich war noch immer nackt. Die Luft im Raum war angenehm warm und auch die Wände und die Gewölbedecke strahlten eine wohlige Wärme ab. Verwundert sah ich mich um. Der Raum war ziemlich groß, viel größer als meine Schwitzhütte, doch bis auf die steinernen Liegen und eine seltsam anmutende Apparatur, die sich auf einem großen, gemauerten Quader in der Mitte des Raumes befand und deren Sinn sich mir nicht erschloss, vollkommen leer. In die eine Hälfte des Quaders war ein kupferner Kessel eingelassen, der mit Wasser gefüllt war. Aus der Mitte der Apparatur ragte eine massive, schmiedeeiserne Stange, an deren Oberseite ein metallener Arm befestigt war, der auf der anderen Seite des Steinquaders in einem Deckel aus rostigem Eisenblech verschwand. Die seltsame Apparatur wirkte in keiner Weise vertrauenerweckend und mich überkam das unbestimmte Gefühl, mich in einer mittelalterlichen Folterkammer zu befinden. Andererseits waren nirgendwo Folterinstrumente zu sehen und die Apparatur konnte alles Mögliche sein.

Da der Raum keine Türe und somit keinen Ausgang besaß, legte ich mich auf eine der beiden steinernen Liegen und versuchte nachzudenken. Doch es dauerte nicht lange, bis meine Gedanken irgendwohin verschwanden, wohin ich ihnen nicht folgen konnte oder wollte. Ich genoss die angenehme Wärme und wunderte mich nicht einmal, dass ich überhaupt keine Furcht vor meiner merkwürdigen Situation empfand. Ich lag nur da und starrte durch die warme, feuchte Luft hinauf zum Gewölbe und von dort durch das runde Loch auf den Mond, der immer noch voll am Himmel stand und durch die Öffnung hindurch zu mir zurück starrte. Ich überlegte mir noch, wer von uns beiden dem Blick des anderen länger stand halten würde, als mich ein schreckliches, metallisches Kreischen aus meinen Gedanken riss, die nun doch wieder da zu sein schienen. Erschrocken fuhr ich hoch und sah, wie sich der eiserne Arm der seltsamen Apparatur in Bewegung gesetzt hatte. Unter ständigem Quietschen und Ächzen wurde er nach oben gehoben, nahm den rostigen Blechdeckel mit, unter welchem ein geschmiedeter Korb aus dicken Eisenstäben zum Vorschein kam. Der Korb war mit Granitsteinen gefüllt und wurde von der Apparatur langsam aus dem Quader herausgehoben. Rauch folgte ihm und ich erkannte, dass in dem Quader ein Feuer gelodert hatte, dessen Hitze die Steine zum Glühen brachte. Inzwischen stand der eiserne Arm fast senkrecht, doch der Korb war beweglich angebracht, so dass er die Bewegung des Armes mit machte, ohne seine Lage zu verändern. Der Arm schwang über die Mitte hinaus und nun senkte sich der Korb mit den heißen Steinen auf der anderen Seite der Eisenstange wieder hinab und wanderte langsam dem kupfernen Kessel entgegen, in dem er mit lautem Zischen und Fauchen unter der Wasseroberfläche verschwand. Siedend heißer Dampf raste aus dem Kessel, schoss durch den Raum und hüllte alles in wenigen Augenblicken in einen dichten, heißen Nebel. In einem jähen Reflex schloss ich die Augen und schon spürte ich den schmerzhaft heißen Dampf über meine Haut jagen und ich hörte, wie ein lauter Schrei meiner Kehle entrann ...


... ein Schmerzensschrei drang durch meine Ohren in mein Gehirn, doch ich wusste nicht, woher er kam. Ich spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte und fand lange nicht den Mut, meine Augen zu öffnen, um nach zu sehen, was geschehen war. Doch je länger ich zögerte, um so mehr wurde mir bewusst, dass ich von einer lautlosen Stille umgeben war. Gab es das überhaupt? Eine lautlose Stille? Jedenfalls konnte ich von dem Schrei nichts mehr hören und ich war mir plötzlich auch überhaupt nicht mehr sicher, ob es ihn jemals gegeben hatte. Vorsichtig öffnete ich die Lider und ließ die Bilder, die durch meine Augen herein fielen, auf mich wirken. Ich befand mich wieder in meiner Schwitzhütte und durch das Loch in der Kuppel blickte der Mond herein. Es war immer noch Vollmond und vielleicht war die Zeit überhaupt nicht vergangen. Oder doch? Jedenfalls spürte ich, wie die Nacht kühl durch die Ritzen zwischen den Weidenruten herein drang.

Copyright 2008 Numungo

Sommernachmittag

Der Sommer drängte sich heiß und grell durch das staubige Geäst, unter dem ich lag und döste und welches schützend einen dünnen Schatten über mich hielt. Es war heiß, sehr heiß, doch unter dem Baum konnte ich es gerade noch aushalten. Und auch die Fliegen hielten es aus. Fleißig überkrabbelten sie meinen halbnackten, von Brombeerhecken zerkratzten, baumüberschatteten Körper und verharrten dann und wann in einem dünnen Film aus frischem, warmem Schweiß. Aber sie leckten ihn nicht, trippelten lieber weiter, um immer wieder mit ihren kleinen Rüsseln in meinen leise blutenden Wunden zu wühlen, zu saugen, zu schlecken, es war eine wahre Pracht. Bald begannen meine Wunden zu jucken und zu brennen. Ein leise zitternder Schmerz machte sich bemerkbar und ich begann zu kratzen. Die Wunden wurden tiefer und größer und die Fliegen wurden mehr und mehr. Bald waren es so viele, dass ich sie nicht mehr zählen konnte. Es juckte stärker. Ich kratzte weiter. Die Zahl der Fliegen nahm immer weiter zu. Bald sah ich meinen Körper unter der dichten, schwarzen Fliegendecke nicht mehr. Das Verscheuchen der Fliegen hatte ich inzwischen aufgegeben, lange schon. Ich sah dem Gewimmel nur noch zu und bald interessierte es mich nicht mehr. Irgendwann schlief ich dann ein.

Als ich wieder erwachte, lag ich nicht mehr unter dem Baum. Nur die Sonne gleiste noch. Und eine einsame Fliege schwirrte brummend um meinen Kopf. Nachdem sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, sah ich auf die Uhr. Es war fast schon Mittag. Ich musste wohl verschlafen haben. 

Copyright 1985 Numungo

Sonntag, 11. Januar 2009

Kopfbilder

Wer es wagt, in den Köpfen seiner Leser Bilder zu erzeugen, muss auch den Mut haben, sich selbst diesen Bildern zu stellen.

Copyright 2008 Numungo

Wüste

Die Wüste ist leer und doch voller Sand!

Copyright 2009 Numungo

Vom Tun

Es gibt so vieles, das getan werden sollte, und dennoch - oder gerade deswegen - weiß der Mensch oft nicht, wo er anfangen soll und tut - nichts!

Copyright 2008 Numungo

Leben leben

Jedes deiner Leben gibt dir die Chance, es besser zu leben, als das vorige. Die Schwierigkeit ist jedoch herauszufinden, wie du das vorangegangene Leben gelebt hast.

Copyright 2008 Numungo

Sinnsuche

Viele Menschen suchen ihre Wurzeln in fremden Kulturen und wenn sie merken, das sie sie nicht finden, suchen sie in der nächsten Kultur weiter.

Copyright 2008 Numungo

Samstag, 10. Januar 2009

Glück

Das Glück erfüllt mein Herz
wie Wasser eine Badewanne

Hoffentlich zieht niemand
den Stöpsel

Copyright 1984 Numungo

Für Dich

Ich wollte ein Gedicht
für Dich schreiben
und saß stundenlang 
vor einem leeren Blatt Papier,
denn in meinen Gedanken
war ich immer bei Dir
statt bei dem Gedicht
auf dem Papier.

Copyright 1985 Numungo

Klara

Zwitschernd begrüßten die Vögel den warmen Frühlingstag. Die grünen Wiesen waren mit unzähligen, in allen Farben blühenden Blumen übersät und auch die Bäume hatten ihr Frühjahrskleid wieder angelegt. Die Sonne schob sich über den wolkenlosen Himmel und tauchte das Land in ein helles, angenehmes Licht. Ihre wärmenden Strahlen tauchten in jeden Winkel und krochen auch durch das weit geöffnete Fenster in Klaras Zimmer. Sie leuchteten das ganze Zimmer aus und dennoch wollte die dort wie zäher Honig stehende Dunkelheit nicht weichen.

Klara lag im Bett und schlief. Ihr Gesicht war bleich und hatte einen wächsernen Glanz. Um die Augen standen breite, blaue Ränder und die schmalen, blutleeren Lippen waren fest zusammen gepresst. Ihre Kopfhaut leuchtete im grellen Sonnenlicht schneeweiß, genau dort, wo sonst die Haare sind. Alles war weiß, Klara, das Bett, das ganze Zimmer. Totenweiß.

Klaras Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Bett und blickte mit leeren Augen auf Klara. Lange schon saß sie so, vielleicht die ganze Nacht. Sie bewachte Klaras Schlaf. Seit Wochen schon wachte sie Nacht für Nacht an Klaras Bett und versuchte verzweifelt die Dunkelheit zu verscheuchen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Niemanden wollte das gelingen. Als sie die Sonne vor dem Fenster erblickte, rannen lautlose Tränen über ihre Wangen und tropften auf ihre schlanken, im Schoss gefalteten Hände.

Die Tür wurde leise geöffnet und ein Mann trat ins Zimmer. Er küsste Klara auf die kalte Stirn und gab auch der Mutter einen Kuss.

"Du hast geweint", sagte er. Es war keine Frage.

"Komm", flüsterte er ihr zu, nachdem er eine Weile neben ihr gestanden und ihre Hand gehalten hatte, "leg dich ein wenig schlafen. Nun werde ich bei Klara bleiben."

Die Mutter stand auf und drückte schweigend seine Hand. Dann verließ sie das Zimmer und Klaras Vater übernahm ihren Platz auf dem Stuhl. Dieses Ritual führten sie jeden Tag durch, wenn er von der Nachtschicht zurück kam. Auch an den Wochenenden.

Seit wie vielen Wochen machen wir das nun schon, fragte sich der Vater, während er sein Gesicht in den auf den Knien aufgestützten Händen vergrub. Er wusste es nicht, denn er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Seit Klara hier lag, gab es für ihn nur noch arbeiten und wachen und arbeiten und wachen und ... Wie lange er das noch durchhalten würde, daran wollte er überhaupt nicht denken. Er konnte an gar nichts mehr denken. Und er wollte auch nicht mehr denken. Er fühlte sich bereits genauso weiß, wie die Wände und das Bett und ... Nein, er wollte auch nicht daran denken, wie er sich fühlte.

Während er neben Klara saß und daran dachte, dass er nicht mehr denken wollte, wurde das Weiß des Zimmers noch weißer und begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Das Weiß der Wände floss auf den Fussboden und vermischte sich mit dessen Weiß - war der Fussboden vorhin auch schon weiß gewesen? -, das Weiß der Decke tropfte herunter und färbte die Luft, die er atmete weiß, alles um ihn her war weiß, wurde immer noch weißer und weißer und er spürte, wie das viele Weiß an ihm nagte und ihn zu zerfressen drohte, es drang in seinen Mund, in seine Nase und in seine Ohren ein und er fühlte, dass seine Lunge schon vollkommen weiß war, alles war so unendlich weiß, sogar sein Blut und seine Haut, seine Haut sowieso, sie war so weiß wie das Zimmer oder noch weißer, er konnte sich in all dem Weiß um ihn her überhaupt nicht mehr erkennen, er konnte sich nicht mehr sehen, er verlor jegliches Gefühl, das Weiß drehte sich oder drehte er sich? - drehte sich alles? - was war los mit ihm? - war er noch da? - wo war er? - wo war er ? - wo ...? Und in all dem Weiß wurde ihm bewusst, dass es nicht weiß war, was er sah, sondern absolute, vollkommene Dunkelheit, die ihn umschloss und würgte und nicht mehr los lassen wollte.

Die Sonne stieg nun höher, doch sie wandte ihren Blick nicht von Klaras Fenster. Draußen im Garten versammelten sich unzählige Vögel im Apfelbaum und trällerten ihre Lieder. Besonders schön sang eine Amsel, die ganz oben auf der Spitze des Baumes saß, doch ihr Lied durchdrang die weiße Dunkelheit des Vaters, die nun ganz schwarz war, nicht.

In diesem Moment begannen Klaras Augenlider zu zucken, um sich kurz darauf blinzelnd zu öffnen. Fragend sah sie ihrem Vater an, um dann ihren Blick dem geöffneten Fenster zuzuwenden.

Klaras Vater war sich nicht sicher, ob er richtig gesehen hatte. Hatte Klara tatsächlich geblinzelt? Hatte sie tatsächlich ihre Augen geöffnet? Oder hatte er sich in seinem Schmerz das alles nur eingebildet? Doch es gab keinen Zweifel: Klara hatte die Augen geöffnet und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war aus dem Koma erwacht, doch er wusste nicht, ob sie ihn erkannt hatte.

Klara lauschte dem Lied der Amsel. Und als diese ihr Lied beendet hatte, hüpfte sie auf einen anderen Zweig und flog davon. Das Lächeln in Klaras Gesicht wurde deutlicher. Und mit diesem Lächeln löste sich auch die alles erdrückende Dunkelheit im Zimmer auf. Das Weiß verschwand und die Farben kehrten zurück. Und mit den Farben auch die Freude.

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Seltsame Geschichten aus einer seltsamen Welt

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