Zwitschernd begrüßten die Vögel den warmen Frühlingstag. Die grünen Wiesen waren mit unzähligen, in allen Farben blühenden Blumen übersät und auch die Bäume hatten ihr Frühjahrskleid wieder angelegt. Die Sonne schob sich über den wolkenlosen Himmel und tauchte das Land in ein helles, angenehmes Licht. Ihre wärmenden Strahlen tauchten in jeden Winkel und krochen auch durch das weit geöffnete Fenster in Klaras Zimmer. Sie leuchteten das ganze Zimmer aus und dennoch wollte die dort wie zäher Honig stehende Dunkelheit nicht weichen.
Klara lag im Bett und schlief. Ihr Gesicht war bleich und hatte einen wächsernen Glanz. Um die Augen standen breite, blaue Ränder und die schmalen, blutleeren Lippen waren fest zusammen gepresst. Ihre Kopfhaut leuchtete im grellen Sonnenlicht schneeweiß, genau dort, wo sonst die Haare sind. Alles war weiß, Klara, das Bett, das ganze Zimmer. Totenweiß.
Klaras Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Bett und blickte mit leeren Augen auf Klara. Lange schon saß sie so, vielleicht die ganze Nacht. Sie bewachte Klaras Schlaf. Seit Wochen schon wachte sie Nacht für Nacht an Klaras Bett und versuchte verzweifelt die Dunkelheit zu verscheuchen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Niemanden wollte das gelingen. Als sie die Sonne vor dem Fenster erblickte, rannen lautlose Tränen über ihre Wangen und tropften auf ihre schlanken, im Schoss gefalteten Hände.
Die Tür wurde leise geöffnet und ein Mann trat ins Zimmer. Er küsste Klara auf die kalte Stirn und gab auch der Mutter einen Kuss.
"Du hast geweint", sagte er. Es war keine Frage.
"Komm", flüsterte er ihr zu, nachdem er eine Weile neben ihr gestanden und ihre Hand gehalten hatte, "leg dich ein wenig schlafen. Nun werde ich bei Klara bleiben."
Die Mutter stand auf und drückte schweigend seine Hand. Dann verließ sie das Zimmer und Klaras Vater übernahm ihren Platz auf dem Stuhl. Dieses Ritual führten sie jeden Tag durch, wenn er von der Nachtschicht zurück kam. Auch an den Wochenenden.
Seit wie vielen Wochen machen wir das nun schon, fragte sich der Vater, während er sein Gesicht in den auf den Knien aufgestützten Händen vergrub. Er wusste es nicht, denn er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Seit Klara hier lag, gab es für ihn nur noch arbeiten und wachen und arbeiten und wachen und ... Wie lange er das noch durchhalten würde, daran wollte er überhaupt nicht denken. Er konnte an gar nichts mehr denken. Und er wollte auch nicht mehr denken. Er fühlte sich bereits genauso weiß, wie die Wände und das Bett und ... Nein, er wollte auch nicht daran denken, wie er sich fühlte.
Während er neben Klara saß und daran dachte, dass er nicht mehr denken wollte, wurde das Weiß des Zimmers noch weißer und begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Das Weiß der Wände floss auf den Fussboden und vermischte sich mit dessen Weiß - war der Fussboden vorhin auch schon weiß gewesen? -, das Weiß der Decke tropfte herunter und färbte die Luft, die er atmete weiß, alles um ihn her war weiß, wurde immer noch weißer und weißer und er spürte, wie das viele Weiß an ihm nagte und ihn zu zerfressen drohte, es drang in seinen Mund, in seine Nase und in seine Ohren ein und er fühlte, dass seine Lunge schon vollkommen weiß war, alles war so unendlich weiß, sogar sein Blut und seine Haut, seine Haut sowieso, sie war so weiß wie das Zimmer oder noch weißer, er konnte sich in all dem Weiß um ihn her überhaupt nicht mehr erkennen, er konnte sich nicht mehr sehen, er verlor jegliches Gefühl, das Weiß drehte sich oder drehte er sich? - drehte sich alles? - was war los mit ihm? - war er noch da? - wo war er? - wo war er ? - wo ...? Und in all dem Weiß wurde ihm bewusst, dass es nicht weiß war, was er sah, sondern absolute, vollkommene Dunkelheit, die ihn umschloss und würgte und nicht mehr los lassen wollte.
Die Sonne stieg nun höher, doch sie wandte ihren Blick nicht von Klaras Fenster. Draußen im Garten versammelten sich unzählige Vögel im Apfelbaum und trällerten ihre Lieder. Besonders schön sang eine Amsel, die ganz oben auf der Spitze des Baumes saß, doch ihr Lied durchdrang die weiße Dunkelheit des Vaters, die nun ganz schwarz war, nicht.
In diesem Moment begannen Klaras Augenlider zu zucken, um sich kurz darauf blinzelnd zu öffnen. Fragend sah sie ihrem Vater an, um dann ihren Blick dem geöffneten Fenster zuzuwenden.
Klaras Vater war sich nicht sicher, ob er richtig gesehen hatte. Hatte Klara tatsächlich geblinzelt? Hatte sie tatsächlich ihre Augen geöffnet? Oder hatte er sich in seinem Schmerz das alles nur eingebildet? Doch es gab keinen Zweifel: Klara hatte die Augen geöffnet und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war aus dem Koma erwacht, doch er wusste nicht, ob sie ihn erkannt hatte.
Klara lauschte dem Lied der Amsel. Und als diese ihr Lied beendet hatte, hüpfte sie auf einen anderen Zweig und flog davon. Das Lächeln in Klaras Gesicht wurde deutlicher. Und mit diesem Lächeln löste sich auch die alles erdrückende Dunkelheit im Zimmer auf. Das Weiß verschwand und die Farben kehrten zurück. Und mit den Farben auch die Freude.
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Hallo Numungo!
AntwortenLöschenGefällt mir sehr!
Lieben Gruß
Sylvia
Hallo Numungo,
AntwortenLöschendiese Geschichte ist sehr anrührend und wunderbar geschrieben. Kompliment.
Gruß
Linda